Damenwahl
Die unberührte Neue Klasse
Bevor die M GmbH das Ruder übernahm, hielten sich BMWs besonders potente Modellausführungen in der Optik wie in der Bezeichnung zurück: Statt „M“ wie „Motorsport“ hießen sie schüchtern „ti“ für „turismo internazionale“. Oder, wie dieser bemerkenswerte 2000, „tii“ – um mit dem zweiten i („iniezione“) auf BMWs ersten Einspritzmotor hinzuweisen.
Frauen wissen nicht, was sie wollen? Vielleicht, doch Madame Creuzenet aus dem französischen Charette-Varennes wusste 1971 ganz genau, was sie wollte: kein französisches Auto. Ja, solch unpatriotisches Käuferverhalten kam nicht erst mit dem Einzug der Japaner in den 80er Jahren auf. Welches Modell hätte die anspruchsvolle Dame denn auch auswählen sollen? Die DS? Mon dieu, die 1955 lancierte Göttin war trotz umfangreichen Facelifts erkennbar in die Jahre gekommen, polarisierend im Design obendrein. Da half auch der mit 120 PS kraftvolle Einspritzer der DS 21 ie nicht weiter. Und apropos – Frontantrieb? Non! Der französische Mercedes, der Peugeot 404, kam in seiner Altbackenheit von vornherein nicht in Frage, sein mit abgeknicktem Heck nicht unbedingt positiv auffallender Nachfolger 504 ebensowenig. Und dazu diese Dieselmotoren. Also wirklich! Wenn ich Mercedes, pardon, Peugeot fahren will, rufe ich ein Taxi! Der elegante Simca 1501 fiel leider durch seine bei schmächtigen anderthalb Litern endende Motorenpalette aus dem Raster, und bei der Niederlassung mit dem aufgekurbelten Scherenwagenheber im Emblem machte sich die 58-jährige gar nicht erst die Mühe, den Showroom zu betreten. Denn Renault hatte dieser Tage in der gehobenen Mittelklasse nichts zu bieten.
Die Lösung ihres Mobilitätsproblems fand Madame Germaine made in Germany. Nein, keinen drögen Strichacht, da hätte sie ihre Francs ja gleich Peugeot in den Löwenrachen werfen können. Vielmehr hatte sich die Dame im September 1971 in einen saharabeigen BMW 2000 tii verliebt, nicht lange gefackelt und ihn am 29. desselben Monats in ihrem Department Saone et Loire auf sich zugelassen. Zugegeben, das Spitzenmodell der 1962 erschienenen Neuen Klasse entsprach optisch vielleicht nicht ganz der letzten Mode, doch wirkte deren sachlich-strenger Strich mit sportiv-flacher Gesamtnote und aggressiv geneigter Frontpartie keineswegs veraltet. Und was da unter der Haube los war, der reinste Jungbrunnen! Die strammen 130 PS des seit 1969 mit der topmodernen Kugelfischer-Saugrohreinspritzung vermählten Zwoliter-Vierzylinders machten die Nationale 7 zur Kurzstrecke, wenn es in den landesweiten Sommerferien an die Mittelmeerküste ging.
Doch die waren gerade vorbei, und mit dem beginnenden Herbst stand die nicht nur gut angezogene, sondern auch überaus geschmackssichere Madame Creuzenet vor einer Herausforderung. Da sie gern einen beigen Mantel mit braunem Pelzkragen trug, passte die Farbe des BMW perfekt zu ihrer Garderobe. Perfekt? Nein, nicht ganz. Die Nuance des Pelzkragens kollidierte mit den silbergrauen Sitzbezügen ihres am 27. Juli 1971 nach Frankreich ausgelieferten Fahrzeugs. Daher ließ die stolze Besitzerin sie kurzerhand durch Veloursbezüge im dunklen Braun des Kragens ersetzen. Nun stimmte alles, und sie genoss ihren tii bis ins hohe Alter. Die von ihr zurückgelegten 41.536 Kilometer – der fünfstellige Tacho hat bestimmt nicht genullt – zeugen allerdings davon, dass sie den Wagen nur zu besonderen Anlässen nutzte. Selbst als sie schon im Altenheim lebte, träumte sie noch davon, ihren geliebten BMW nochmals zu fahren. Madame Creuzenet wurde 102 Jahre alt und verstarb im Frühjahr 2016.
Der 2000 tii blieb bis zum 7. Februar 2011 im Erstbesitz ihrer Familie, dann wurde er an einen holländischen Autohändler verkauft. Ein auf Ersthandfahrzeuge spezialisierter Enthusiast aus Göttingen erwarb den BMW im März 2012 und ließ ihn niemals in Deutschland zu, um den Ersthandstatus zu erhalten. Er bewegte den 2000 tii in diesem Zeitraum bei schönem Wetter lediglich 4.355 Kilometer mit einem Sammlerkennzeichen. Von ihm erstand der jetzige Besitzer, ein BMW-begeisterter Sammler aus Leipzig, den sportlichen Franzosen im August 2020. Sein Interesse galt ebenfalls dem Ersthandstatus, aber auch der Unberührtheit des Bayern. Denn laut Thomas Fenchel, dem Betreuer der Leipziger Sammlung, handelt es sich bei diesem 2000 tii um ein einmaliges Objekt: „Die Kombination aus Originallack, nicht geschweißtem und tadellosem Karosseriezustand, der sehr geringen Laufleistung und lediglich einem eingetragenen Fahrzeughalter kommt wahrscheinlich nicht noch einmal vor. Was könnte stärker zeigen als dieser sagenhafte Pflegezustand, wie sehr Madame Creuzenet ihre Limousine liebte?“
Die machte es ihr ja auch nicht schwer, stellte Thomas eigenhändig fest: „Durch das große Holzlenkrad lässt sich das Fahrzeug auch ohne Servolenkungsunterstützung selbst im Stand leicht lenken, das war von durchaus größer Bedeutung. Für einen ,alten Herren‘ fährt der ,Franzose‘ sehr agil und lässt sich auch im heutigen Straßenverkehr sehr präzise bewegen.“ Doch der Zwiespalt zwischen permanenter angenehmer Nutzung und der Sorge des Sammlers, durch einen Unfall den Status dieser einmaligen Unberührtheit zu verlieren, führte dazu, dass er mit dem 2000 tii seit dem Kauf lediglich 642 Kilometer zurücklegte, bemerkt der Betreuer der Sammlung. Sogar eine Trennung wurde daher schweren Herzens erwogen: Der Sammler hat vor, diese Neue Klasse an das
BMW-Museum zu veräußern, damit sie dort aufgrund ihres einzigartigen Gesamtzustandes entsprechend gewürdigt werden kann und letztlich auch an ihren Geburtsort München zurückkehrt.
Madame Creuzenet hätte das bestimmt gefallen.
Text: Arild Eichbaum
Fotos: Frank Schwichtenberg
Feature Facts: 1971er BMW 2000 tii
Motor: M10 R4, 1990 ccm, Saugrohreinspritzung Kugelfischer PL 04, 130 PS bei 5800 U/min, 177 Nm bei 4000-4700 U/min, Einrohr-Auspuff
Kraftübertragung: Viergang-Schaltgetriebe, Hinterradantrieb
Fahrwerk: vorn: Querlenker mit Federbeinen und Scheibenbremsen; hinten: Schräglenker mit Schraubenfedern, Teleskopstoßdämpfern und Trommelbremsen
Räder: 5,5 x14-Stahlräder mit Zierblenden
Reifen: Vredestein „Sprint Classic“ in 175 HR14
Karosserie: Erstlack in „Saharabeige“, ungeschweißt
Interieur: braune Veloursbezüge nachgerüstet, Blaupunkt-Radio „Stuttgart“